Im Februar 2018 beauftragte mich unser Vorstand, einige Tage nach den Feierlichkeiten zum 75-jährigen Ende der Stalingrader Schlacht in Wolgograd länger zu bleiben, um das Zwangsarbeiterprojekt näher kennenzulernen. Ich führte Gespräche mit der Geschäftsführerin Elena Shatokhina und ging einen Tag mit der Sozialarbeiterin Irina ZwangsarbeiterInnen besuchen. Außerdem besuchte ich noch Galina Saschina, die Vorsitzende der Wolgograder Sektion der Russischen Vereinigung ehemaliger Gefangener in Konzentrationslagern.
Darüber hinaus traf ich noch Mitglieder des Vorstandes des dortigen Köln-Vereins und andere Bekannte, mit denen wir gemeinsame Projekte durchführen.
Bei meinem ersten Gespräch mit Elena Shatokhina fiel mir auf, dass bisher ein wichtiges Strukturelement der Arbeit wenig genannt wurde, nämlich die wöchentlichen Teambesprechungen. Das ist schon etwas Besonderes, wenn man die Ausbreitung Wolgograds bedenkt: die Stadt ist 80km lang und ca. 8km breit, es gibt unglaubliche Entfernungen, die selbst mit öffentlichen Verkehrsmitteln mühselig zu überwinden sind.
Die Sozialarbeiterinnen sind jeweils 8 Stadtbezirken zugeordnet, so dass eine Person für einen oder zwei bestimmte Stadtbezirke zuständig ist. Anders ist eine sinnvolle Arbeit kaum zu bewerkstelligen. Selbst als ich mit Irina die 3 ZwangsarbeiterInnen im Dzerzhinskij-Bezirk besuchte, mussten wir alle Strecken mit öffentlichen Verkehrsmitteln zurücklegen.
Bei ihren Teamtreffen besprechen sie wichtige Fälle und überlegen gemeinsam Vorgehensweisen. Mir erscheint diese Form optimal, anders wäre es gar nicht möglich, in dieser riesigen Stadt schnell und flexibel auf Situationen zu reagieren.
Zum Thema Weiterbildung äußerte sich Elena Shatokhina sehr positiv und interessiert, doch sieht sie da keine finanziellen Möglichkeiten; eine sinnvolle Fortbildung könnte zum Thema „Umgang mit dementen Klienten“ sein, doch würde so etwas ca. 500.-€ p.P. kosten.
Und nun zu den Sozialarbeiterinnen:
Sie sind seit 15 Jahren in dem Projekt und haben sehr gute, enge Beziehungen zu ihren Klienten. Aus diesem Grund führen sie ihre Arbeit fort, die viel zu wenig bezahlt wird; zum Teil sind sie bereits Rentnerinnen und verdienen sich zu ihrer kleinen Rente etwas dazu.
Irina sagt, dass sie die Not verwalten – für die großen Bedarfe reicht es kaum aus, und sie bemühen sich sehr, allem gerecht zu werden.
Die meisten ZwangsarbeiterInnen leben mittlerweile in ihren Familien, da sie gar nicht mehr alleine zurecht kommen. Die Sozialarbeiterinnen kommen z.B. dann, wenn Familienangehörige arbeiten, nicht da sind. Es gibt auch städtische Sozialarbeiterinnen, allerdings arbeiten die nicht so intensiv; und mit ihnen stimmen sie u.a. die Besuchszeiten ab.
Irina berichtete, dass nur ein geringer Teil der Medikamente vom Staat teilfinanziert wird.
Die Sozialarbeiterinnen verstehen sich als „Mädchen für alles“ – sie tun das, was ansteht: die Miete bezahlen gehen, sich an die Rentenstelle wenden, juristische Probleme klären, in die Polyklinik begleiten, einkaufen , kochen, putzen, pflegerische Tätigkeiten. Ich war am Monatsanfang mit Irina unterwegs: zu Beginn kauften wir jeweils Pampers – das Monatsdeputat.
Für jede Tätigkeit der Sozialarbeiterin muss die Klientin eine Quittung unterschreiben, auf der sie das bestätigt. Dieser Zettel wird dann donnerstags im Büro abgeliefert.
Im Wesentlichen besuchen die Sozialarbeiterinnen jeweils 28 Klienten im Monat, viele einmal, bei Bedarf auch 2- und mehrmals.
Elena Shatokhina berichtete, dass in den letzten 5 Jahren die Mittel zur Gesundheitsversorgung um ein Drittel zurückgegangen sind – außer der Teuerung, die auch ständig stattfindet.
Wenn man im Krankenhaus ist, muss man für alles extra bezahlen. Mit einer Überweisung aus einer Poliklinik kann man ins Krankenhaus kommen, doch alte Leute werden einfach nicht auf die Warteliste gesetzt. Man kann den Notarzt rufen, der gibt eine Spritze o.ä., doch wird man nicht ins Krankenhaus eingeliefert.
Die Rolle des Arztes im Projekt ist etwas kompliziert: er hat zwar eine Lizenz zum Rezept Erteilen, doch da das Zentrum keine medizinischen Tätigkeiten ausführen darf, ist ihm das im Rahmen seiner Arbeit für das Zentrum verboten. Er versteht sich eher als medizinischer Berater; allerdings ist er der einzige Arzt, der noch Hausbesuche macht – die allgemeinen Ärzte aus den Polykliniken und die Fachärzte machen das nicht. Doch findet er aus dem obengenannten Grund nicht so viel Anerkennung.
Auf ein weiteres großes Problem wurde ich hingewiesen: viele der ehemaligen ZwangsarbeiterInnen sind dement, und das führt zu wachsenden Schwierigkeiten. Sie werden immer ängstlicher und misstrauischer, so dass es schon öfter dazu kam, dass sie die Türe nicht öffnen wollten oder die Polizei rufen wollten.
In dem Zusammenhang sprach ich das Problem mit den schwindenden Ehrenamtlern an. Elena Shatokhina erwähnte, dass auch wegen der zunehmenden Demenz, aber auch wegen eklatant zunehmender Einbrüche in Wohnungen die ehem. ZwangsarbeiterInnen keine weiteren russischen Ehrenamtler als Besucher wünschen. Ab und zu kamen zu ihnen junge deutsche Freiwillige für kurze Zeit von anderen Projekten, die sie dann aber mit Begeisterung empfingen.
Leider ist die Finanzierung von Freiwilligen aus Deutschland aus Kostengründen über dieses Projekt nicht möglich; Frau Eberhard von der Kölner Freiwilligenagentur hat mir die Bedingungen dafür zugeschickt: man muss Unterkunft, Verpflegung und 100.-€ Taschengeld zur Verfügung stellen. Da aber das Modell mit deutschen Freiwilligen sehr sinnvoll zu sein scheint, will sich unser Verein nach anderen Stiftungen umschauen, die das übernehmen würden.
Zu den Ehrenamtlern gibt es noch etwas zu ergänzen: außer den 4 offiziellen Ehrenamtlern gibt es noch 8-10 „inoffizielle Ehrenamtlerinnen“, die dieselbe Arbeit machen, doch unentgeltlich. Es gibt keinen Vertrag mit ihnen, der eigentlich obligatorisch ist, denn sie scheuen die Verantwortung.
Ich kenne eine dieser inoffiziellen Ehrenamtlerinnen, sie hat auch ein anderes Projekt in unserem Verein – eine seit Jahrzehnten engagierte Frau, als Kind in einem Zwangsarbeiterlager geboren.
Die inoffiziellen und offiziellen Ehrenamtlerinnen sind meistens selbst ehemalige Zwangsarbeiterinnen, die in den jeweils 8 Stadtbezirken ihre Organisationen haben. Sie verstehen sich auch als Selbsthilfegruppe, doch nicht nur… Sie nehmen auch am gesellschaftlichen Leben teil. Sie gehen in Schulen, Bibliotheken, berichten über ihre Schicksale. Es gibt z.T. sehr aktive Gruppierungen. Besonders am 11. April, dem Tag der ehemaligen KZ-Häftlinge und Zwangsarbeiter, gibt es dazu Veranstaltungen, und die Stadtverwaltung lädt sie dann zu einem Treffen in einem Restaurant ein. Oder es gibt Veranstaltungen gemeinsam mit der Jugend, auf denen man sich begegnet – mit Konzert, Tanz, Tee,… und Erzählungen der ZwangsarbeiterInnen.
Es gibt sogar eine (nationale) Zeitung für ehemalige ZwangsarbeiterInnen, für die machen sie Werbung, suchen Abonnenten. Auch überregional und national sind sie mit ähnlichen Gruppen vernetzt.
Elena Schatochina schlug im Gespräch vor, dass es sehr wünschenswert sei, wieder von deutscher Seite aus Briefkontakte mit den ehemaligen ZwangsarbeiterInnen anzuregen, da viele ja nicht mehr mobil seien und sich über Briefe freuen würden. Vielleicht könne man Sprachstudenten finden, die dann jeweils das Übersetzen übernehmen würden.
Abschließend muss ich sagen, dass ich von dem, was ich bei den Besuchen gesehen habe, sehr beeindruckt war:
Die Sozialarbeiterinnen gehen äußerst liebevoll und wertschätzend mit den alten kranken Menschen um, diese freuen sich total über ihr Kommen.
Und besonders bewegt hat mich ihre Haltung mir als Vereinsvertreterin gegenüber: sie und ihre Familienangehörigen, wenn sie da waren, weinten z.T. vor Dankbarkeit Deutschland, der EVZ und unserem Verein gegenüber wegen der Unterstützung, die sie erhalten, zeigten stolz ihren Rollator o.ä.. Auch erinnerten sich alle an positive Begegnungen mit Deutschen während der Kriegszeit, eine rezitierte deutsche Gedichte.
Doch sie äußerten auch Ängste, ob die Unterstützung weiterläuft.
Dies waren für mich denkwürdige und wertvolle Begegnungen, die ich nie vergessen werde.
Eva Aras