Rede von Andrii Konovalov

Rede von Andrii Konovalov, Kriegsdienstentzieher (Kropywnyzkyj, ehem. Kirowograd / Ukraine), Student an der Universität Köln

Ich grüße euch und danke Allen, die sich Zeit genommen haben, hier zu sein, um der Opfer des Faschismus zu gedenken!

In meiner Familie haben diese Tage immer einen besonderen Sinn gehabt. Ein Teil von meiner Familie stammt aus Leningrad, heute St. Petersburg. Der andere Teil der Familie floh teilweise vor den Nazis oder lernte sich an der Front kennen und kämpfte zusammen gegen die Wehrmacht. Das Feiern vom Tag des Sieges am 9. Mai begleitet meine Kindheitserinnerungen – zunächst mit meiner Familie während der Demonstrationen und dann im Rahmen von Schulveranstaltungen. Und das galt für die meisten ukrainischen Familien. Laut einer Studie des Internationalen Soziologie-Instituts von Kiew hielten 2010 58 % aller Ukrainer den Tag des Sieges für einen der wichtigsten Feiertage. Im Jahr 2023 verkündete aber die ukrainische Presse stolz, dass nur noch 13 % der Anhänger des Feiertags übriggeblieben waren.

Ich halte solche Delegitimierung des Gedenkens für pervers. Mir scheint es offensichtlich, dass das Feiern von Ereignissen wie dem Jahrestag des Sieges über den Faschismus zulässig und richtig ist, auch wenn diese Ereignisse von „bösen“ Russen gefeiert werden.

Aber deshalb halte ich heute Ihre Anwesenheit hier nicht für selbstverständlich, obwohl ich früher hätte anders denken können.

Als ich in der Ukraine aufwuchs, erschienen mir viele Dinge selbstverständlich und unbestritten. Mir wurde beigebracht, dass jeder Mensch den gleichen Respekt und die gleichen Rechte verdient, dass es falsch ist, Menschen aufgrund ihrer Herkunft, ihrer Religion oder ihrer Gebrauchssprache zu unterteilen, und dass man solche Versuche tadeln sollte. Mir wurde auch beigebracht, dass die Schwachen und Wehrlosen geschützt werden sollten und nicht umgekehrt.

Leider wurde mein Aufwachsen von einer Relativierung all dieser grundlegenden Wahrheiten begleitet. Ich habe miterlebt, wie Politiker in ihrem Streben nach höherem Rating und Finanzmitteln die Gesellschaft in Gruppen aufspalteten, diese gegen einander ausspielten und deren Interessen dreist über die Interessen der Allgemeinheit stellten. Ich habe miterlebt, wie den Gruppen jeder Grund geboten wurde, sich als ungerecht behandelt zu fühlen und wie Ungerechtigkeit, Gewalt gegen die Anderen als der einzig mögliche und daher notwendige Weg dargestellt wird, um „persönliche“ Gerechtigkeit zu erreichen. Jetzt wird mir klar, dass es solche Kräfte und Einflüsse in jeder Gemeinschaft immer gegeben hat. Genau deshalb ist es wichtig, solche scheinbar offensichtlichen Dinge zu verstehen und zu wiederholen.

Ungerechtigkeiten können keine weiteren Ungerechtigkeiten rechtfertigen. Das Verletzen von Rechten darf nicht als Rechtfertigung für weitere Rechtsverletzungen dienen. Ebenso darf Gewalt nicht als Vorwand für weitere Gewalt genutzt werden.

Nur ein starker Protest gegen die Anwendung von Gewalt als politisches Mittel und für die Entmachtung der Kriegsgewinnler wird uns dem Frieden näherbringen. Nur ein Protest gegen die Spaltung der Menschen in Gruppen kann uns helfen, diesen Frieden zu bewahren.

Wir sollten deutlich machen, dass die Bedrohung für unsere Zukunft heute nicht von einer bestimmten Nationalität, Kultur oder Religion ausgeht. Die Bedrohung für unsere Zukunft liegt allein in der Politik der Spaltung und der ungeheuerlichen sozialen Ungleichheit und Machtkonzentration in den Händen von wirtschaftlich Mächtigen. Die einzige Möglichkeit, diese Bedrohung zu bekämpfen, besteht darin, die Politik der Spaltung abzulehnen, die gegnerische Seite besser zu verstehen, mit ihr emphatisch zu sein und sich international solidarisch für Gerechtigkeit und Frieden einzusetzen.

Ich wünsche mir, dass heute aus den Verbrechen des Faschismus die universalistische Konsequenz für alle Menschen und Völker gezogen wird: Niemand darf diskriminiert werden. Die Würde und die Rechte aller Menschen müssen realisiert und alle Kriege beendet werden! (Applaus)

Was wichtig ist – das antifaschistische Gedenken darf nicht für nationalistische Motive missbraucht werden. Nur dann werden wir nicht mehr Gefahr laufen, uns im Streben nach politischen Gewinnen zu verlieren, und in der Lage sein, Recht und Unrecht zu unterscheiden. Und nur, wenn wir lernen, alle Ungerechtigkeiten und ihre Nutznießer zu verurteilen, können wir unsere Zukunft und den Weg dorthin klar erkennen. Deswegen rufe ich Alle dazu auf, den Tag der Befreiung vom Faschismus zu feiern, die Verfolgung der ukrainischen Kriegsdienstverweigerer zu verurteilen und sich gegen die Gewalt in all ihren möglichen Formen einzusetzen.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit! (Applaus)